Sterben – oder töten und leben? (Tag 9)

Es ist ein Horrorszenarium. Aber denk bitte mal drüber nach: Du hast mit einem langjährigen Freund soeben einen 6300 Meter hohen Berg bezwungen. Durch ein Seil seid ihr miteinander verbunden – und so schafft ihr, trotz seiner eingefrorenen Beine, Fortschritte auf dem beschwerlichen Weg zurück in die Zivilisation. Als er aber plötzlich eine Schlucht hinabstürzt, bleiben dir nur zwei Optionen: Mit ihm zu erfrieren. Oder das Seil durchzuschneiden, an dem er hängt.

Kommunizieren könnt ihr nicht – und eine Möglichkeit, ihn zu retten, ist ebenso wenig in Sicht. Du hast also die Qual der Wahl: Nimmst du das Messer zur Hand, durchtrennst den ’seidenen Faden‘, an dem er hängt – und lässt deinen Partner somit in den beinahe sicheren Tod rauschen? Bringst du das übers Herz? Hast du den Mut, die Kraft, den Egoismus – oder was immer dazu nötig ist?
Freundschaft oder Überleben?
Partnergefühl oder Selbsterhaltungstrieb? Emotionalität oder Rationalität?
Du – und nur du allein! – musst dich entscheiden.

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Was klingen mag wie ein böser Albtraum, wie die Hölle auf Erden, das ist in Wahrheit Teil der Lebensgeschichte von Simon Yates, die im preisgekrönten Buch „Touching the Void“ nacherzält wird.
Ich hatte heute früh und gestern Abend die Ehre, bei jemandem zu Gast zu sein, der nicht nur selbst Bergsteiger (und Bezwinger eines Fast-7000ers) ist, sondern zudem Kletterpartner und Kollege von Yates – und entsprechend über interessantes Hintergrundwissen en masse verfügt. So verbrachten wir endlose Stunden damit, übers Bergsteigen zu sinnieren und Fotos anzusehen; über Abenteurer und über Risikosport zu quatschen, und Höchstleistungs- und Dopingfragen zu klären.
Und immer wieder versuchten wir natürlich, uns in Simon Yates Situation hineinzuversetzen, Argumente zu finden – und damit eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage: Das Seil unberührt lassen und in Gemeinschaft sterben – oder es durchschneiden und dem Kletterpartner seinen letzten Halt rauben?
Mir selbst dreht sich, das muss ich gestehen, der Magen um, wenn ich intensiv über diese Gewissensfrage nachdenke.

Zugleich zeigt diese Geschichte mir aber etwas Weiteres: Und zwar, wie belanglos sie doch allesamt sind, die Fragen, mit denen wir uns im Alltag abmühen. „Bus oder Bahn?“; „Ausbildung oder Studium?“; „Schnitzel oder Steak“; „Dortmund oder Schalke?“. Verglichen mit jenen von Simon Yates haben wir im Leben (fast) nie wirkliche Probleme zu meistern, fast nie wirklich ernste Entscheidungen zu treffen, fast nie wirkliche Gewissensfragen zu beantworten.
Viel zu oft machen wir die Fragen des Alltags allerdings viel dramatischer, als sie es sind, und verlieren dabei nicht nur den Fokus auf das Wesentliche. Sondern allmählich auch das generelle Gespür dafür, was wirklich wichtig (im Sinne von: essentiell) ist.

Dass wir dennoch oftmals den Eindruck gewinnen, dass all unsere Entscheidungen ‚ach so dramatisch‘ seien, während wir in einer absolut risikoarmen und in allen Belangen abgesicherten Gesellschaft agieren, liegt mit Sicherheit auch in der Tatsache begründet, dass den Faktoren Geld, Macht, und Zeit ein solch hoher Stellenwert beigemessen wird und sie in der Konsequenz als ähnlich wichtig erachtet werden wie das Leben selbst. Verstärkt wird dieser Trugschluss vermutlich durch den enormen Leistungsdruck, den wir uns auferlegen oder auferlegen lassen.

Tatsächlich aber geht es bei allen Alltagsfragen nur in den seltensten Fällen ans Eingemachte, so wie bei Simon Yates – und es könnte enorm ertragreich sein, sich exakt das ins Bewusstsein zu rufen.

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Ähnliches gilt auch für meine aktuelle Tour: Wenngleich manche Situationen bisweilen schwierig wirken, sind die konkreten Fragen, die ich mir stelle, kritisch betrachtet alles andere als dramatisch: „Im Regen weiterfahren oder irgendwo unterstellen?“, „Die Nacht im Zelt aushalten oder notfalls zum 24-Stunden-McDonalds radeln?“; „Am Fluss entlang oder über den Berg?“; „Mittagessen genießen oder drauf verzichten müssen?“ „Links oder rechts der Mosel fahren?“.

Auf dem heutigen Tagesabschnitt stand für mich zunächst eine 20 Kilometer lange, leichte Abfahrt an. Danach ging es am „Canal d‘ Lest“ in Richtung Metz, wo ich am Abend eintraf, und mich prompt heimisch fühlte: Nicht nur, weil ich im IKEA pausierte und davor allerhand Autos mit deutschem Nummernschild parkten. Sondern auch, weil fünf Kilometer vor dem Etappenziel ein LKW-Fahrer namens „Dieter“ meine Aufmerksamkeit erregte, der dem Nummernschild nach zu urteilen doch tatsächlich aus Osterode kam.

Der Abend endete wunderbar, weil ich auf eine WG-Party eingeladen wurde. Highlight waren dort aber nicht nur die französischen Delikatessen, sondern auch ein deutsches Gespräch mit einer Französin, deren schneeweiße Katze doch tatsächlich den Namen „Curry-Ketchup“ trägt. Großartig!

Im Übrigen hat Simon Yates es schlussendlich übers Herz gebracht, in seiner absolut grotesken Situation das Seil durchzuschneiden. Und damit hat er – so einfach sich das auch als Außenstehender sagen lässt – das objektiv einzig Richtige getan. Zumal schlussendlich nicht nur er überlebte, sondern – wie durch ein Wunder – auch sein Partner Joe Simpson: Dieser war nach dem Seil-Cut in eine Felsspalte hinabgerutscht, rette sich nach tagelangem Kampf und enormen Knieproblemen aber kurz vor dem Kältetod ins Basislager. Einen Vorwurf machte Simpson seinem Kletterpartner nie. Und dennoch hat Yates in der Folge in der Bergsteiger-Szene (als Begleiterscheinung seiner Entscheidung) mit dem – alles andere als positiv behafteten – Beinamen „He who cut the rope“ leben müssen.

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Und die Moral dieser Geschichte?
Nun, aus meiner Sicht ist es die folgende: Gehe Beruf sowie Freizeit nicht allzu verbissen an; begegne Entscheidungsfragen mit Lockerheit; führe dir vor Augen, dass es sich bei fast keinem deiner Probleme um ein wirkliches Problem handelt; höre auf, zu jammern, wenn nicht die Variante eintritt, die du dir erhofft hast; und gehe mit einem – manchmal ironischen – Lächeln durchs Leben.
Und, führe dir – um all das zu erreichen – als ultimate Quintessenz verdammt nochmal vor Augen, dass es Menschen gibt auf dieser Welt – da draußen, an Orten, welche wir nicht einmal besuchen würden, weil wir sie als viel zu gefährlich erachten – die sich den wirklich existentiellen Fragen und Problemen des Lebens stellen müssen:
„Wie bekomme ich heute mein Essen und Trinken?“; „Herrscht heute Krieg oder Waffenstilstand?“; oder eben auch: „Soll ich das Seil durchschneiden oder nicht?“
Denk mal drüber nach!

Die Memo des Tages: Ikea-Sofas sind auf dem Weg zur Regeneration der Knüller.

Der Dank des Tages gebührt: Meinem Host für unvergessliche und emdlose Gespräche, sowie für das Buch („Touching the Void“ – welches sonst!), das er mir mit auf den Weg gab.

Der Vierzeiler des Tages:
Nur, dass wir uns richtig verstehen:
Mit meinem Tipp, „mal drüber nachzudenken“,
will ich weniger diktatorisch lenken; als vielmehr anbieten, die Welt mal anders zu sehen.

Wenn ich heute Geld gehabt hätte, hätte ich mir folgendes gekauft: Eine Zeitmaschine. Denn dann hätte ich mich 15 Jahre jünger gemacht ud wäre im IKEA in das riesige Becken aus Plastikbällen gesprungen. (Geschäftsidee: Solch ein Becken mal für Erwachsene bauen, um sie ganz und gar Kind sein zu lassen.)

Tourdaten:
Start: Niederanven
Ziel: Metz
Kilometer: 95

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