Glohrreicher Gewinner (Tag 10)

Kennnt ihr diese Spielautomaten mit Greifarm, welche manchmal in den Eingangshallen von Supermärkten stehen? Die, bei denen man Plüschtiere, Uhren, und manchmal gar Gameboys oder Handys abgreifen kann? Bei denen man für einen Euro Großes gewinnen könnte – aber letzten Endes immer doch nichts gewinnt, außer der Erfahrung, dass man nicht(s) gewinnen kann?

Heute, auf dem imposanten ‚Plaz Stanislas‘ in der Innenstadt von Nancy, da fühlte ich mich genau wie an einem solchen Automaten. Der Greifarm jedoch, das waren zwei meiner Stifte, die ich zu einer Art Pinzette umfunktioniert hatte. Und der Hauptpreis? Nun, das war eine Bremsschraube, die soeben – während ich meine Bremsen in Schuss brachte und die Beläge austauschte – doch tatsächlich in einen Spalt auf dem Steinkachelfußboden gerollt war.

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Es war vermutlich ein Bild für die Götter: Denn da kniete er nun also, in der Eiseskälte, der in Radmontur vermummte deutsche Tourist, auf dem ehrwürdigsten Platz der Stadt, und inspizierte scheinbar – mit zwei Stiften in der Hand – akribisch den Spalt im Fußboden. Minutenlang mühte er sich ab, erlebte innerlich eine Achterbahnfahrt der Gefühle (als etwa die Schraube noch weiter hinabrutschte; oder kurz vor dem Ziel doch wieder herunterfiel), ehe er schließlich die Radreperatur – und kurz darauf auch die Radreise – fortsetzen konnte.

75 der insgesamt 130 Kilometer musste ich von Nancy aus noch zurücklegen, ehe ich schließlich in meinem Zielort Frizon eintraf. Bei Dunkelheit. Erschöpft. Aber wohlgemerkt mit intakten Bremsen und der Gewissheit, nur noch gut 400 Kilometer bis zu meinem Endziel strampeln zu müssen.

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In Frankreich bin ich bereits seit gestern unterwegs – doch erst heute wurde mir eines so richtig bewusst: Ich spreche kein Wort Französisch! Manche Ausdrücke jedoch, zumeist auf Hinweistafeln zu lesen, glaube ich zu verstehen:

„Pique Nique“ etwa heißt offenbar ‚Picknick‘; „Flammekuche“ heißt wohl ‚Flammkuchen‘; „Parachuteeri“ sicher etwas in Zusammenhang mit ‚Fallschirmspringen‘; und „composterie“ vermutlich ‚Kompost‘ oder ‚Abfallentsorgung‘.
Und ich muss zugeben, dass ich finde, dass all die französischen Worte ziemlich niedlich klingen:
Wahrscheinlich werden auch Wörter, die gefährliche Begriffe beschreiben, auf Französisch so niedlich ausgesprochen, dass sie alles andere als bedrohlich klingen: „Brandel-Attentate“; „Bombenne-Kriegelerie“, oder „Automobille-Unfallerei“ – so stelle ich mir das als Unwissender zumindest vor.
Was allerdings das folgende Schild bedeutet, das blieb mir ein Rätsel:

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Einmal hat mich die Sprache heute indes vollends ausgetrickst: Am Beginn eines nicht gerade solide ausgebauten Radweges prangte das Schild „Fin de provisor – 1 Kilometre“; woraufhin ich interpretierte: ‚In einem Kilometer endet der provisorische Weg – und der Radweg wird besser‘.
Doch vielmehr war das exakte Gegenteil der Fall: Unkraut, Trekkerspuren, Wasserpfützen und Schotter zwangen mich förmlich zu einer langwierigen Schiebeeinheit.
Kann mich ein Französischexperte vielleicht mal aufklären?!

Schwierigkeiten bietet hier indes nicht nur die Sprache, sondern auch der Straßenverkehr: Zebrastreifen suggerieren zwar Vorfahrt – aber nur theoretisch. Autos hupen mich aus kürzester Entfernung zur Anfeuerung an – und merken nicht, dass ich jedes Mal vor Schreck fast vom Rad falle.
Und am Kreisel blinken die Autofahrer nicht nur beim Hinausfahren, sondern auch beim Hineinfahren. Wobei dies vor allem dann tückisch ist, wenn du selbst in den Kreisel einfahren willst, und sich von links ein Auto annähert, dessen rechter Blinker gesetzt ist (weil der Kollege soeben in den Kreisel gefahren kam); wobei du in dieser Situation am besten daran tust, lieber nicht loszufahren.

Ferner wurde mir bewusst, dass Frankreich allerhand Paradoxen bietet. Denn, erstens, gibt es zwar in den Städten immer eine Fahrspur für Radfahrer – außerorts hingegen nie. Dies wirkt deshalb absurd, weil innerorts die Autos ja ohnehin langsam fahren und ein Bürgersteig existiert, welchen man nötigenfalls nutzen könnte. Und außerorts spendet man dann plötzlich voll beladenen Lastwagen, die von hinten mit 100 Sachen auf dich zugerast kommen, seinen direkten Windschatten. Komisch!
Das zweite Paradoxon bezieht sich freilich nicht nur auf Frankreich, sondern auf alle Orte, in denen man sein Handy nutzt: Denn wenn man an verregneten oder eiskalten Tagen zur Routenplanung das Mobiltelefon zückt, wo tut man dies dann logischerweise am liebsten? Richtig: Geschützt, unter einer Brücke!
Und, wo, um Himmels Willen, hat man mit dem Handy keinen (GPS-)Empfang? Richtig: Unter einer Brücke. Komisch!
Paradox ist hier auch, dass die Franzosen nicht Blumen in Töpfe pflanzen, sondern Bäume – wie das nachfolgende Foto zeigt:

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Nach den Hindernissen zum am Morgen.und Mittag wurde meine Fahrt idyllisch – aber beinahe ein wenig zu idyllisch: Ich fuhr auf einem schmalen Mountainbikeweg zwischen Kanal und Fluss, wo ich mein Gefährt über Wurzen, Stock und Stein quälte, weil ich solch einen malerischen Weg inmitten des rauschenden Wassers einfach unmöglich links (beziehungsweise: rechts) liegen lassen konnte.
Doch weil auf dem Pfad zusätzlich eine feuchte Laubschicht die Fahrbahn bedeckte – und arg rutschig machte – hätte über eine Stunde hinweg eine falsche Bewegung ausgereicht, um mich im Fluss zu versenken. Wahrlich keine schöne Vorstellung bei diesen Temperaturen.
Wobei der rutschige Weg ein Vorgeschmack sein sollte auf jene Bedingungen, die mich am nächsten Tag durchgehend erwarten sollten.

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Erst am Abend, beim Rückblick auf den Tag, fiel mir auf, dass ich heute ein wahrer Gewinner war. Nicht nur, weil ich gütige Gastgeber vorfand, die mir beim gemeinsamen Abendessen Routentipps für morgen gaben. Sondern vor allem, weil ich erstmals in meinem Leben bei diesen Greifspiel, bei dem man eigentlich stets verliert, gewonnen hatte (oder genau genommen: überhaupt gesehen hatte, dass man dabei.gewinnen kann). Zwar war der Hauptpreis „nur“ eine Bremsschraube – doch die war mir in jenem Augenblick verständlicherweise viel mehr wert als ein Plüschtier oder Gameboy.
Wobei ich ja nicht wissen konnte, dass ich – so verrückt das auch klingen mag – die Bremsbeläge bereits am Abend des nächsten Tages erneut würde austauschen müssen…

Die Memo des Tages:
Bremsen reparieren = gut!
Plaz Stanislas = auch gut! Bremsen reparieren auf Platz Stanislas = gar nicht gut!

Der Dank des Tages gebührt: Meinen Stiften; dem Herren in der KFZ-Werkstatt für die drei Batterien für meine Stirnlampe; der älteren Dame für Routenplanhilfe, Motivation, und Insiderwissen über die Region.

Der Vierzeiler des Tages:
Fragt sich, in einem Bäumemeer;
wohl der einzig grüne Baum geknickt;
wenn er all seine roten Kollegen erblickt;,
ob er der Ausländer unter ihnen wär?

Wenn ich heute Geld gehabt hätte, hätte ich mir folgendes gekauft: Ganz klar: eine Pinzette!

Tourdaten:
Start: Metz
Ziel: Frizon
Kilometer: 128

Ein Kommentar zu “Glohrreicher Gewinner (Tag 10)

  1. Ja Timo, du hast bewiesen, dass man gewinnen kann. Aber du hast ja auch bewiesen, dass man mindestens tausend Euro investieren müsste um einen Gewinn abzusahnen 😉
    Schön, dass alles gut gegangen ist 🙂

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