Ein bisschen ‚Brrrrrrrrr‘?! (Tag 7)

Auf den Radwegen fühle ich mich wie der letzte Mohikaner, weil ich keine Artgenossen treffe; und von allen Seiten werde ich gefragt: „Timo, ist das nicht ganz schön kalt – zum Zelten, zum Radfahren, und für so eine Reise insgesamt?“
Jetzt, da ich eine Woche auf zwei Rädern unterwegs bin, kann ich diese Frage leicht und eindeutig beantworten:

Ja, um Himmels Willen, natürlich ist es kalt!
Und zwar vor allem dann, wenn ich mich im Morgengrauen aufs Rad schwinge, während Rasenflächen (und Hausdächer!) mit Frost bedeckt sind. Immer dann, wenn ich im Zelt vor Kälte aufwache. Oder, wenn meine eiskalten Füße nach einem langen Pedaliertag allmählich wieder zum Leben erwachen.
All das lässt sich indes ganz gut aushalten, so lange sich keine Nässe dazu gesellt. Heute jedoch, da regnete es – und vermutlich ist dies der Hauptgrund dafür, weshalb es auf meiner knapp 100 Kilometer langen Fahrt in die älteste Stadt Deutschlands, Trier, irgendwie noch ein bisschen kälter als gewöhnlich war.

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Dass ich meinen Trip allerdings im Spätherbst umsetze und nicht etwa im Hochsommer, dafür gibt es eine handvoll Argumente, die überzeugen (oder zumindest rede ich mir tagtäglich ein, dass sie das täten):

Denn, erstens, unterziehe ich, während es mehrere Stunden gallert, mein Material (Zelt, Packtaschen, Regenhandschuhe – von denen die Hersteller behaupten, dass sie absolut wasserdicht seien) unweigerlich einem Praxistest unter härtesten Bedingungen.

Zweitens lockt am Ende des Tages fast immer eine Wärmephase. Und was glaubt ihr wohl, wie sehr man einen Kamin, eine warme Dusche, trockene Kleidung, oder eine Heizung genießen kann, wenn zuvor permanent feuchte vier Grad geherrscht haben?

Drittens bilde ich mir ein, dass Mitmenschen in der kalten Jahreszeit (aus Mitgefühl?) ein Stückweit zuvorkommender sind. Das gilt vermutlich umso mehr in Anbetracht der nahenden Adventszeit. „Na gut – aber nur, weil bald Weihnachten ist“, schob mir neulich beispielsweise eine Bäckerin neben zwei Brötchen über die Theke.

Viertens hielt ich es für weitaus interessanter, die Situation eines Geldlosen unter schwierigen Bedingungen zu erleben. Denn der Reiz, eine solche Erfahrung im Sommer zu machen, wo man unter freiem Himmel schlafen könnte, hält sich aus meiner Sicht wahrlich in Grenzen.

Und, fünftens, würde ich diese Fahrt, wenn nicht jetzt, vermutlich nie in Angriff nehmen. Wobei dies nicht nur mein finales Argument ist, sondern zugleich mein schlagkräftigstes.
Denn wie oft geschieht es doch im Leben, dass man Dinge umsetzen möchte, aber viel zu lange auf die ‚optimalen‘ Bedingungen wartet? „Ja – dann und dann wäre es doch noch besser“, sagt man sich – und schlussendlich wird man Zeuge davon, wie die Pläne im Sande verlaufen.
„Wer sich etwas vornimmt, hat es schon verschoben!“ – dieser Spruch fasst diese hinlänglich bekannte Situation ganz gut in Worte, finde ich.

Ein gutes Argument gibt es im Übrigen auch für die Tatsache, dass die hier veröffentlichten Bilder allesamt Aufnahmen bei guten Bedingungen zeigen – und etwa frei von Regen sind. Denn: Stellt euch einfach einmal vor, ihr seid vom Regen durchweicht, es ist bitterkalt, die Wangen hochrot und die Augen (schließlich habt ihr am zweiten Tag eure Sonnenbrille verloren…) permanent am Tränen. Hättet ihr dann, in solch einer Lage, die Muße, auch noch das Handy herauszuholen, um ein Foto zu schießen?

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Auch auf meiner heutigen Etappe konnte ich abermals den Wein förmlich riechen, als ich an der Mosel entlang pedalierte. Ich kam durch regelrechte „Weindörfer“, in denen sich ein Winzerhaus an das nächste reiht – und die haargenau so aussehen, wie ich sie zeichnen würde, wenn ich denn zeichnen könnte. Zudem gab es auch interessante Namen (wie das obige Foto beweist…), während Gleitschirmflieger dem tristen Himmel einen Hauch von Farbe schenkten.
165 tausend Hektoliter Wein – so viel wird jährlich vom ‚Moselverein‘ produziert, wie ich zufällig im Radio aufgeschnappt habe – wobei fast die Hälfte davon in die USA exportiert wird. Ich habe keine Ahnung, wie viel oder wenig Wein das ist – aber die Zahl klingt zumindest recht bedrohlich.

Mit Trier erreichte ich am Tagesende nicht nur fast das Ausland, und ein Mekka für antike Gebäude. Sondern auch einen Ort, der bei mir vor allen Dingen mit zwei Erinnerungen verknüpft ist. Diese gehen auf eine Fahrt mit dem Lateinkurs – ich muss etwa fünfzehn Jahre alt gewesen sein – zurück, und sie haben sich genau so in meinem Gehirn festgesetzt wie die heutige Kälte sich in meinen (Hand-)Schuhen.

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Die erste der beiden Erinnerungen handelt von einem Fußballspiel zu Füßen der Porta Nigra, dem imposanten Tor und Wahrzeichen der Stadt (siehe kommendes Foto). Mit zwei Freunden spielte ich gegen drei ältere Möchtegern-Profis, wobei es am Ende 20:19 für das Göttinger Trio hieß.
An die Partie erinnere ich mich weniger aufgrund des Ergebnisses oder des Torschützen des alles entscheidenden Treffers (der meiner subjektiven Erinnerung zufolge einen brillanten Solo-Lauf mit einem Winkelkracher krönte; der Ansicht meiner beiden Freunde zufolge jedoch den Ball aus drei Zentimetern aufs leere Tor einschob; wobei der Ball ohnehin reingegangen wäre, weshalb wiederum meine Teamkollegen (überspitzt formuliert) Angst davor gehabt haben, dass ich durch mein Eingreifen den Sieg eventuell noch gefährden könnte.)
Im Gedächtnis geblieben ist mir die Begegnung aber vielmehr aufgrund eines Wortwechsels, der seinen Ursprung darin sieht, dass sich beide Freunde von mir für das Match Schuhe – Hallenschuhe und Aquasocks – geliehen hatten, während ich selbst in meinen sportlichen Alltagsschuhen auflief.
Das Spiel war in vollem Gange, als einer der Freunde schließlich – im Wahrsten Wortsinn – bemerkte: „Scheiße, Jungs. Vorsicht, da liegt Hundescheiße!“, woraufhin der zweite entgegnete: „Ach, ist doch egal: Ich hab Timos Schuhe an!“ – und der erste wiederum lachend diese Erkenntnis auch für sich nutzte: „Ach, naklar. Ich ja auch: Ich hab ja auch Timos Schuhe an!“
Mir selbst blieb nichts, als ebenfalls ein niedergeschlagenes „Ja, toll: Ich auch!“ über die Lippen zu pressen.

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Die zweite Geschichte ist substanzreicher; sie handelt von Karl – und sie muss in diesem Blog einfach Erwähnung finden. Nicht nur, weil sie in Trier stattfand und der nette Kalifornier von neulich doch zufällig ebenfalls Karl hieß. Sondern auch, weil einige, die offenbar diesen Blog lesen, die Story miterlebt haben und sie zudem eine äußerst ironische Facette beinhaltet:
Karl also, großgewachsen, 35-jährig, ungepflegt und dem Gefühl zufolge obdachlos, kam auf besagter Lateinexkursion in das Zimmer unseres Jugendgästehauses gestapft. Während wir acht Schüler am Herumturnen waren – wie es 15-Jährige eben so tun – tat Karl ebenfalls das, was man eben so tut, wenn man ungebeten in das Zimmer einer Jugendgruppe platzt: Er stellte sich vor!
„Hallo, ich bin der Karl!“, erklärte er in einem an Monotonität kaum zu überbietenden Tonfall. Interessierter wurde er hingegen, als er auf dem Tisch ein Schachbrett erspähte: „Oh, ihr spielt Schach?“, fragte er – und bewegte sich ohne irgendwelche Anzeichen, dass er selbst sein Verhalten für außergewöhnlich – geschweige denn, für dreist – hielt, auf die 64 Felder in der Mitte des Raumes zu.
Und dort sollte er, nachdem er von seiner ‚Schachkarriere‘ berichtet hatte, auch flugs einen Gegner finden.
Die entstandende Situation aber, die war natürlich absolut bizarr: Denn dort hockten sie nun also; einer meiner Freunde saß dem erwachsenen, unbekannten, und nicht gerade wohlriechenden Trierer gegenüber – und einige weitere pubertierende Jungs standen um sie versammelt.
Nur eine Person hatte offenbar etwas gegen unseren „neuen Freund“ einzuwenden:
Es war unser Lateinlehrer, der Karls Aufenthalt (und damit zugleich der Schachpartie) ein jähes Ende setzte:
„Gehen Sie raus hier“, sagte er in unmissverständlich bestimmendem Tonfall – während Karl selbst entweder seinen Hang zum Humor oder aber zum Alkohol (wobei sich das vermutlich nicht gegenseitig ausschließt) unter Beweis stellte: „Okay, okay“, akzeptierte er. „Wenn euer Vater (!) will, dass ich gehe, dann gehe ich eben!“, sagte Karl, und verließ den Raum, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Spontan fällt mir nicht nur ein, dass ein sehr bekanntes Schachmagazin ebenfalls „Karl“ heißt.
Sondern vor allem die Ironie des Lebens, welche mit dieser Geschichte einhergeht: Denn heute, da war in Trier ich derjenige, der durch Dreistheit par excellence bestach und als Obdachloser fremde Herbergen aufsuchte.

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Ganz konkret begab ich mich nämlich, in Trier angekommen, in die Jugendherberge – wo doch allen Ernstes schon ein Weihnachtsbaum aufgestellt war. Um 23 Uhr baute ich schließlich im umzäunten Garten des Hostels mein Zelt auf. Wobei ich realisieren musste, dass man sich zu dieser Jahreszeit auch als Camper irgendwie fühlt wie der letzte Mohikaner…

Die Memo des Tages: Jugendherbergen sind in meiner Situation die beste Adresse, die man sich wünschen kann. Die heutige bot mir nicht nur Wärme, Zeitschriften, Spiele, eine bequeme Couch, ein Bad, Gesprächspartner und Musik. Sondern auch Sport auf einer Großbildleinwand sowie ein üppiges Frühstück am nächsten Morgen.

Der Dank des Tages gebührt:Allen Jugendherbergen dieser Welt; der Dame für die Birnen; Trier für die Erinnerungen.

Der Vierzeiler des Tages: Den Titel kann man zweifach verstehen:
„Brrrrrrrrr“ als Laut des Erfrierens;
oder als Zeichen des Fassung-Verlierens,
all derer, die mich als „ein bisschen bescheuert“ ansehen.

Wenn ich heute Geld gehabt hätte, hätte ich mir folgendes gekauft: Eine mobile Sauna oder einen mobilen Whirlpool. Das Schwimmbad in Trier, mit dem ich geliebäugelt hatte, hatte nämlich leider bereits ab 17:30 Uhr geschlossen.

Tourdaten:
Start: Traben-Trarbach
Ziel: Trier
Kilometer: 98

2 Kommentare zu “Ein bisschen ‚Brrrrrrrrr‘?! (Tag 7)

  1. Geilster… Bericht… Aller… Zeiten 😀
    Timo, ich musste noch nie beim Lesen von etwas so heftig lachen 😀 😀 😀

    • Das freut. Wobei du ja auch nicht ganz unbeteiligt warst…meiner subjektiven Erinnerung zufolge als stiller Beobachter eines Jahrhunderttores – deiner (objektiveren…) zufolge aber vermutlich als genialer Vorbereiter eines Allerweltstores…

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