Angenehmes Unwissen… (Tag 14)

Dort standen sie, versammelt in einem Pulk: Rund 10 Rennradfahrer – und sie alle begrüßten mich mit französischen Jubelschreien und einer improvosierten Laola-Welle, während ich an ihnen vorbeiraste. Es war kein Traum – sondern Wirklichkeit. Und es war zudem irgendwie ein überaus angenehmes Gefühl, endlich mal andere von meiner Sorte zu erblicken. Zugleich war die Anfeuerung durch die Artgenossen Höhepunkt meiner – mit 148 Kilometern – längsten Etappe dieser Reise.

Womöglich war diese Erfahrung auch deshalb so erfreulich, weil ich die Jubelrufe „Allez! Allez!“ aus dem Fernsehen kannte – und damit wusste, dass sie so etwas wie „Weiter so!“ oder „Auf Gehts!“ bedeuteten. Oder aber, ich genoss die Ansporn-Geste deshalb so sehr, weil ich glücklich war ob der Tatsache, dass mich der heutige Rückenwind regelrecht in mein Ziel trug. Oder aber, es lag daran, dass man sich als Reiseradfahrer im Winter oftmals Schwierigkeiten konfrontiert sieht – und deshalb bereits die kleinsten Gesten zu schätzen lernt. Schließlich kämpft man zur kalten Jahreszeit in der Regel mit den Wetterbedingungen, mit skeptischen Blicken – und auch mit anderen bizarren Situationen.

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So fuhr heute beispielsweise ein Auto ganz langsam neben mir her; und die Insassen ließen das Fenster herunter, um kurz darauf etwas zu tun, das mich innerlich mit dem Kopf schütteln ließ: Sie fragten doch allen Ernstes mich, Timo, der sich über 1000 Kilometer von zu Hause entfernt befindet, kein Französisch spricht, und sich in der Region so gut auskennt wie ein Eisbär in der Sahara, nach dem Weg. Wobei dies keineswegs das erste Mal während dieser Reise war, dass mir selbiges widerfuhr.
Ich war aber natürlich – oh Wunder – abermals nicht ansatzweise imstande, einen Tipp zu geben. Und aufgrund von missenden Vokabeln war ich ferner nur bedingt imstande, den Planlosen zu verdeutlichen, dass auch ich selbst ein Planloser war.
Worin ich mir demgegenüber absolut sicher bin, ist, dass ich persönlich niemals auf die Idee kommen würde, einen Reiseradler, der mit Megamassen an Gepäck unterwegs ist, nach dem Weg zu fragen.

Bizarr sind aber auch viele andere Situationen. Etwa jene, welche ihren Ursprung darin sehen, dass Straßen und Wege nicht für Reiseräder samt Gepäck ausgelegt zu sein scheinen.
Mit einer Fotofolge möchte ich verdeutlichen, welche Momente auf dem schweren und breiten Reiserad (was sich folglich – wie das letzte Foto zeigt – anfühlt wie ein 15-Tonner) ein Graus sind:

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Trotz kleiner Hindernisse (Orientierungslosigkeit; Verkehrsmassen; Unklarheit, dass ich nicht in die Stadt Macon musste, sondern vielmehr in einen Vorort derselbigen) erreichte ich nach knapp 150 Kilometern schließlich mein Ziel – in dem ich von einer vierköpfigen Familie herzlich empfangen wurde.

Die Familie selbst ist – trotz junger Kinder – erst kürzlich von einer ganz außergewöhnlichen, siebenmonatigen Radreise in Neuseeland und Australien zurückgekehrt. Damit ihre Kinder unterwegs nicht zankten, wurden sie jeweils in einem unterschiedlichen Trolley hinter einem der Erwachsenen-Räder hergezogen. Und das wirft, wie mir unweigerlich deutlich wurde, irgendwie ein ganz neues und anderes Licht auf das, was ICH bislang als ‚viel Gepäck‘ oder ‚Anstrengung‘ bezeichnet habe.
Dabei hat mein Gastgeber einen schönen Vergleich gebracht, um den Kontrast zwischen unberührter Natur einerseits und Massentourismus andererseits zu verdeutlichen: „Timo“, sagte er: „Tasmanien, das ist wie eine schöne Frau, die nicht weiß, dass sie schön ist.“ Viele Teile Australiens hingegen, sagte er, seien eher „wie eine schöne Frau, die um ihre Pracht weiß“.

Und auch die anderen 10 Radfahrer, an denen ich gegen Nachmittag (dank des Rückenwindes) mit 36 Stundenkilometern vorbeigedüst war, die hatten eines nicht wissen können: Während sie mich anfeuerten und vermutlich voller Respekt zu mir – und vor allem zu meinem Fahrtempo – aufschauten; mich für den Größten hielten, den Schnellsten, den Besten; da ahnten sie vermutlich nicht, dass mein heutiger Flow die absolute Ausnahme war. Und dass ich mich für gewöhnlich Meter um Meter mühselig vorankämpfen muss, während das Reiserad permanent meckert, und der Tacho nur durch einen gelegentlichen Kraftakt die 25-Km/h-Grenze zu durchbrechen imstande ist…

Die Memo des Tages:
Sei in Frankreich vorsichtig mit Namen: ‚Benedicte et Julien‘, so hießen meine heutigen Gastgeber. Während ich ‚Benedicte‘ zunächst für den Namen des Mannes hielt, wurde ich im Laufe des Abends eines Besseren belehrt.

Der Dank des Tages gebührt: Den Anfeuerern, den Wegfragenden; meiner Vernunft, das Rücklicht in der Dämmerung anzuschalten; einem Metzger für Würstchen.

Der Vierzeiler des Tages:
Vater, Mutter, Liebe, Haus, Katze, 2- und 7-jähriges Kind:
Bei meinen Host bekam ich zu sehen;
was wir unter „Familienglück“ verstehen;
zumal sie kürzlich alle radelnd in Neuseeland gewesen sind.

Wenn ich heute Geld gehabt hätte, hätte ich mir folgendes gekauft: Eine Go-Pro-Helmkamera, um den Moment des Anspornens für die Ewigkeit festzuhalten. Und wenn ich schon einmal so viel Geld habe, dann auch gleich einen Fernseher, auf dem ich den Moment in Endlosschleife abspielen – und mich damit immer wieder motivieren – kann.

Tourdaten:
Start: Dijon
Ziel: Replonges
Kilometer: 148

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