Ruhetag = Philosophier-Tag (Tag 12)

Der Zwergdackel war der Knüller: Wie eine Nähmaschine tackerte der unermüdliche Vierbeiner durch die Wohnung; er sprang auf Sofas und Tische, er leckte die dreckigen Teller im Geschirrspüler ab. Und zur Höchstform lief er auf, wenn die Katze ins Wohnzimmer tapste – und er begann, sie durchs Haus zu scheuchen. Und das, obwohl die Katze vierzehn (!) Jahre älter und ein Stückchen größer ist als der Hund – und sie alle beide auf dem Holzfußboden permanent wegschlidderten.

Aber nicht nur aufgrund dieser amüsanten Szenen war das Haustier meines Gastgebers der Knüller. Sondern auch, weil es Ursprung eines Gedankens war. Wenngleich sich der Dackel selbst dessen natürlich keineswegs bewusst war.
Angefangen hatte alles damit, dass mein Host dem kleinen Energiebündel die Hundeleine um den Hals legte, ehe wir alle drei zum (Regenerationstag-)-Spaziergang aufbrachen. Erst später, auf den weißen, im Sonnenschein funkelnden Weiden, wurde dem Dackel die Leine abgenommen – und er durfte vollkommene Freiheit genießen.

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Was wirken mag wie ein banaler alltäglicher Vorgang, symbolisiert in sehr anschaulicher Weise das Zusammenspiel zwischen zwei Dingen, die permanent Bestandteil des Lebens – und erst recht meiner aktuellen Reise – sind: FREIHEIT auf der einen Seite und die ihr gegenüberstehende SICHERHEIT auf der anderen. Auf den Straßen war der Hund an der Leine, und zwar der Sicherheit wegen (nicht nur seiner eigenen, sondern auch jener anderer). Doch später, in der Natur, durfte er schließlich seine Freiheit voll ausschöpfen.

„Wie kann ICH auf diesem Trip Sicherheit gewinnen? Geht meine enorme Freiheit zu lasten der Sicherheit? Habe ich überhaupt genug Sicherheit, um meine Freiheit genießen zu können? Und wie wichtig ist mir eigentlich Sicherheit, wie wichtig Freiheit?“
All das sind Fragen, die ich mir auf der aktuellen Tour tagtäglich stelle – sei es, wenn ich nachts allein im Stadtzentrum unter einer Brücke campe. Sei es, wenn ich Fremden mein blindes Vertrauen schenke. Oder, wenn ich bei Dunkelheit oder Schnee Rad fahre.

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Deutschland: 1, Frankreich: 2 - eine Horrorvorstellung für Fußballfans (wurde aber - ebenso wie das nachfolgende Bild - nicht heute aufgenommen!)

Genau genommen habe ich über solche Fragen bereits während meiner USA-Radreise intensiv sinniert (Artikel: HIER) und die folgenden zehn Beispiele niedergeschrieben, um aufzuzeigen, wie allgegenwärtig dieses Gegensatzpaar ist; wie sehr es auf unser Alltagshandeln Einfluss nimmt – und auch, wie massiv die entsprechenden Begriffe bereits Eingang in unseren Sprachgebrauch gefunden haben:

1) Schnalle ich mich im Auto an?
(Aufgabe von räumlicher und zeitlicher Freiheit sowie von Komfort – im Gegenzug gibt es Sicherheit.)
2) Fährt ein Politiker in der gepanzerten Limo oder im offenen Cabrio durch die Stadt? (das Kennedy-Attentat etwa veranschaulicht instruktiv den Sicherheitsaspekt).
3) Darf ich am Samstagabend bei der Party ausrasten (=FREIHEIT), wenn ich am Sonntag beim Tennis “SICHER” gewinnen (beziehungsweise “mit SICHERheit” meine bestmögliche Leistungsfähigkeit abrufen) will?
4) Lasse ich mich beim Klettern von einem Kletterpartner SICHERN oder klettere ich völlig FREI?
5) Verpasst der aggressive Nachbar seinem noch aggressiveren Hund einen Maulkorb oder nicht?
6) Schwimme ich lieber im offenenen Meer oder im Swimming-Pool?
7) Benutze ich beim Fußball Schienbeinschoner (=Sicherheit) oder verzichte ich auf sie (=räumliche, zeitliche und Komfort-Freiheit)?
8) Klammere ich mich in der New Yorker Innenstadt an meinem Brustbeutel oder der Handtasche fest (Sicherheit), oder gehe ich einfach davon aus, dass sie schon niemand klauen wird?
9) Creme ich mich zum Schutz gegen die Sonne ein? (Sicherheit, zugleich aber Aufgabe von Freiheit in Form von Zeit, Geld, und womöglich auch Komfort – immerhin ist das Gefühl eingecremter Haut doch nicht gerade das angenehmste.)
10) Nehme ich SICHERHEITshalber einen zweiten Stift mit in die Klausur? (Sicherheit zu Lasten von Raum und Komfort – aus meiner persönlichen Sicht allerdings ein unrealistisches Beispiel – ich bin schon froh über den ersten!).

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Meine damalige Erkenntnis bestand im Wesentlichen in der folgenden Frage: „Wie viel Sicherheit brauche ich, und wie viel Freiheit will ich?“
Und, darauf aufbauend: „Wie hoch ist das Maß an Sicherheit (oder zumindest das Gefühl von Sicherheit), das ich benötige, um in der Lage zu sein, meine Freiheit vollständig genießen zu können.“
Denn nur dann, so schien es mir, wenn man sich ihr bedingungslos hingeben kann, hat Freiheit jenen Wert, den man ihr zuschreibt. Fehlt hingegen Sicherheit, so ist sämtliche Freiheit Farce, weil Angst zum Dominator wird.

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= der Gegenstand, an welchen mich des Hosts Hund unweigerlich erinnerte..

Auf meiner aktuellen Fahrt wird diese Erkenntnis um eine Facette erweitert. Schließlich habe ich kein Geld. Und Geld – das schafft irgendwie Sicherheit, oder zumindest ein Gefühl davon. Paradoxerweise lässt sich also, wenn man so will, durch finanzielle Freiheit ein Stückweit auch Sicherheit erlangen!

Das wurde mir vor allem durch die drei Euro bewusst, die mir der Kalifornier Karl (den ich ab sofort, weil es so schön passt, nur noch ‚Karlifornier‘ nennen will) geschenkt hat: Plötzlich musste ich mir keinerlei Gedanken mehr machen, ob ich genug zu Essen haben würde.
Ich hatte permanemt ein klein wenig Geld in der Hinterhand, und alle Sorgen waren vorüber. Ich war glücklich – und fühlte mich sicher.
Wobei mir durchaus bewusst wurde, dass man durch diese Sicherheit gleichzeitig irgendwie bequem und faul zu werden droht. Denn in dem Wissen, dass man sicher ist, nimmt man nicht mehr jede Chance war, nach Essen zu fragen oder mit Menschen ins Gespräch zu kommen – wobei dies gewissermaßen eine andere Ausprägung des Phänomens „Erfolg ist der Feind zukünftigen Erfolgs“ ist, welches bereits HIER thematisiert wurde)

Manchmal, das wurde mir bewusst, gibt man im ersten Moment sogar ein Stückchen Freiheit auf, damit man seine anschließende Freiheit genießen kann: Kaufe ich mir beispielsweise eine Waffe, um mich während der Tour sicher(er) zu fühlen, so investiere ich Freiheit (in Form von Geld und auch, weil ich die Waffe in der Folge permanent bei mir tragen muss) für Sicherheit, damit ich meine anstehende Freiheit genießen kann.
Oder, Stichwort Versicherungen: Lasse ich mein Equipment dieses Trips versichern, so investiere ich Geld (also die Freiheit, mir andere Dinge kaufen zu können) für die Sicherheit, während des Trips nicht permanent an einen etwaigen Diebstahl meiner Dinge denken zu müssen, was mein Freiheitsgefühl vermutlich hemmen würde.
Man nutzt also – vorausschauend – seine Freiheit für Sicherheit für Freiheit.

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Nicht mehr allzu weit in mein Ziel...

In unserer Gesellschaft haben wir – ganz im Gegensatz zu Obdachlosen – zu einem Großteil die Wahl, welches Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit wir anstreben. Selbiges hängt logischerweise von Charakter und der Perspektive auf die Dinge ab.
Ohnehin ist auch auf dieser Reise schon jetzt deutlich geworden, dass ungemein viele Dinge von der Perspektive abhängig sind: Drei Euro etwa sind im Alltag wenig, hier jedoch unbeschreiblich viel. Oder: Klagt man im Alltag doch darüber, wie kalt Kirchen seien, so suche ich diese oftmals in der Mittagspause auf, um mich aufzuwärmen (!).
Und eine Sache der Perspektive ist auch für die fünfzehnjährige Katze meines Gastgebers die Sache mit der Freiheit und der Sicherheit: Denn scheinbar hat sie, wie wir alle von Kindesbeinen an lernen, draußen all ihre Freiheit – und drinnen, wenn sie im Haus ist, ein Höchstmaß an Sicherheit. Der Zwergdackel jedoch, der beweist ihr, wenn er ihr im Wohnzimmer hinterherjagd, immer wieder aufs Neue, dass zumindest letzteres ein Trugschluss ist…

Die Memo des Tages: Sei nicht leichtfertig mit Ortsnamen: Heute bin ich in Vernois-Sur-Mance. Doch in der hiesigen Region gibt es ferner einen Ort, der sich nur in einem Buchstaben unterscheidet: Vernois-Sur-Amance…

Der Dank des Tages gebührt: Dem Host für das spontane Angebot, aufgrund des Wetters (Regen, Schneeregen und Schneefall den gesamten Tag über) einfach eine Nacht länger zu bleiben.

Der Vierzeiler des Tages:
Es ist ein Haus, das nie regeneriert:
Post, Markt, Bäcker, Lotto, Geldausgabe;
Zeitung und Zigarren gibt es hier am Tage,
ehe das Haus abends zum Barrestaurant avanciert.

Wenn ich heute Geld gehabt hätte, hätte ich mir folgendes gekauft: Neue Bremsbeläge, um in den kommenden Tagen die Sicherheit zu haben, sie nötigenfalls noch einmal austauschen – und somit meine Freiheit vollends genießen – zu können

Tourdaten:
Start: Vernois-Sur-Mance
Ziel: Vernois-Sur-Mance
Kilometer: 5 Kilometer – wandern

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