Glück liegt überall – wenn man es (emp)findet (Tag 13)

Eine bemerkenswerte Geste war es, die mir heute, an einem beißend kalten Tag, herzliche Wärme schenkte:
„Hey Timo!“, so begann die Nachricht meiner Hosts. „Wir werden leider erst um 18:30 Uhr zu Hause sein. Aber hol dir doch einfach ‚xxx dort und dort xxx‘ den Haustürschlüssel. Bring dein Rad in den Keller, ruhe dich im ersten Stock aus, und koch dir einen Tee. Im zweiten Stock kannst du duschen – ein Handtuch liegt für dich bereit. Fühl dich einfach wie zu Hause. Bis dann!“.

Was für eine geniale Nachricht das war! Und was für eine geniale Vorstellung es doch wäre, in einer Welt zu leben, in welcher ein solches Verhalten (bei dem man sogar fremden Mitmenschen stets sein bedingungsloses Vertrauen schenkt) Gang und Gebe ist: Wir müssten unsere Fahrräder und Haustüren nicht abschließen. Wir könnten sicher sein, niemals hinters Licht geführt oder über den Tisch gezogen zu werden; müssten also niemandem jemals skeptisch gegenübertreten. Und wir bräuchten keine Kontrolleure im Bus oder Fußballstadion – schließlich würde man diese ja auch nur dann betreten, wenn man das entsprechende Ticket erworben hat.
Wenngleich natürlich offensichtlich sein dürfte, dass solch eine großartige Welt utopisch ist. Leider.

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Aber nicht nur aufgrund der Nachricht meiner Gastgeber war heute offenbar mein Glückstag. Sondern auch, weil der Schnee zum Großteil abgetaut war und die 100 Kilometer lange Fahrt nach Dijon enorm leicht fiel, da ich dauerhaften Rückenwind genoss. Wobei mich dieser zweierlei realisieren ließ: Zum einen – rückblickend -, dass ich auf meinem Trip bislang fast ausschließlich Gegenenwind gehabt hatte. Zum anderen – vorausblickend -, dass ich dank des heutigen Windes bedeutend früher in Dijon eintreffen würde als geplant (so man denn auf meiner aktuellen Fahrt von „Planung“ sprechen kann). Dies war im Übrigen auch der Grund dafür, weshalb ich meinen Hosts eine Anfrage geschickt hatte, ob sie mich bereits früher zu empfangen bereit wären – woraufhin sie wiederum für die vertrauensvolle Geste sorgten.

Dass ich heute unterwegs einen neuen Freund gefunden habe, das hat indes nichts mit diesem Wortwechsel (respektive: Schriftwechsel) zu tun. Und genau genommen ist mein neuer Freund noch nicht einmal ein Lebewesen. Ihm gelingt es aber dennoch, mir selbst auf der schwierigsten Etappe immer wieder ein Lächeln zu entlocken. Wovon ich spreche? Nun – ich rede von den elektronischen Anzeigetafeln, die in vielen Orten Frankreichs hängen und auf denen die eigene Geschwindigkeit angezeigt wird. Und zusätzlich zu der Geschwindigkeit gibt es auch noch einen Smiley – ein lächelndes Gesicht, wenn man die zulässige Maximalgeschwindigkeit einhält; und ein erbostes, wenn man sie überschreitet. Bei mir persönlich, da sorgt der Smiley allerdings immer für ein Lächeln – auch wenn er nicht immer lächelt:
Denn bin ich beispielsweise in einer Tempo-30-Zone mit 22 Stundenkilometern unterwegs, so lächelt das Gesicht – und steckt mich an, mitzulächeln; zumal es mir bewusst macht, dass ich die Regeln einhalte.
Schaffe ich es jedoch (etwa auf einer leicht abfallenden Straße) gar, auf 36 Stundenkilometer zu beschleunigen, so bin ich happy über die hohe Geschwindigkeit, die mir die Tafel anzeigt – und interpretiere das böse Gesicht als Ansporn.
Ganz davon zu schweigen, wie ich mich fühle, wenn ich – als alter Straßenrowdy – auf einer Abfahrt mit 51 Stundenkilometern durch eine Tempo-50-Zone brettere.
Ein Freund, dessen Aussage immer glücklich macht; ganz gleich, was er sagt – das gibt es wahrlich nicht alle Tage!

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Ich suche mir auf meiner Reise folglich Freunde, die niemand sonst sich als Freunde suchen würde; ich freue mich wie ein Streuselkuchen über Dinge, über die sich niemand anders freuen würde; und ich provoziere andere Menschen zu Gesten, die nicht nur mich glücklich machen, sondern hoffentlich – in dem Bewusstsein, etwas Gutes getan zu haben – auch sie selbst.
Auf meinem derzeitigen Radtrip sind es logischerweise die kleinen, einfachen, und kostengünstigen Dinge, die mich erfreuen. Und diese liegen, das wird mir tagtäglich deutlich, auf der Straße. Zumindest dann, wenn man offen ist für Neues; wenn man Gespräche sucht; wenn man vertraut statt misstraut; und wenn man es zulässt, das Glück zu finden und es – vor allem – auch als Glück zu EMPfinden. Denn mit Sicherheit hängt das, was man als Glück erachtet oder als Unglück, als Fluch oder Segen, als Gut oder Schlecht, zu einem Großteil von Perspektive und Herangehensweise ab. Wobei das keineswegs nur für diese Reise gilt, sondern für das Leben insgesamt.

So fällt beispielsweise die Tatsache, dass ich praktisch kein Geld bei mir habe, mittlerweile überhaupt nicht mehr ins Gewicht. Zum einen, weil ich mich vermutlich daran gewöhnt habe. Zum anderen, weil meine Hosts mir – wie etwa heute – so viel zu Essen und Trinken mit auf den Weg geben, dass ich vermutlich imstande wäre, bis nach Südafrika weiterzustrampeln.

Indem ich heute Dijon erreichte, trennen mich nur noch etwa 230 Kilometer von Lyon. Kurz, bevor ich in meiner heutigen Zieldestination angekommen war, setzte ich mich in eine Bibliothek, um mich aufzuwärmen. Wobei ich in dem komfortablen Chefsessel unverhofft (aber nicht untypisch für mich…) einnickte.
Es war ein Mitarbeiter der Bibliothek, der mich rund eine halbe Stunde später aufweckte – und damit flugs für die zweite beachtliche Geste des Tages sorgte. Er hatte mich nämlich nicht aufgeweckt, weil ich geschnarcht hätte oder geschlafwandelt wäre – sondern wegen meines Fahrrads. „Ja, okay: Ich soll es vermutlich aus dem Eingangsbereich wegräumen – nahe der Eingangstür stört es zwar NIEMANDEN, aber offenbar sind Franzosen, was Vorschriften betrifft, ähnlich penibel, wie es den Deutschen andauernd vorgeworfen wird!“, regte ich mich innerlich zumindest ein ganz klein wenig auf.
Doch in Wahrheit war etwas ganz Anderes der Fall, wie sich nach minutenlangem Gestikulieren und damit dem Versuch, irgendwie die Sprachbarrieren zu überwinden, herausstellte: Der gute Mann hatte Angst davor, dass jemand etwas aus meinen Packtaschen klauen könne – weshalb er mir vorschlug, das Fahrrad doch einfach mit in die Bibliothek hineinzubringen.
„Wow!“, dachte ich mir, als mir das bewusst wurde. „Respekt! Chapeau!“

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Nachdem ich ihm gedankt hatte, checkte ich auf dem Handy meine Nachrichten. Und weil meine Gastgeber mir gestatteten, bereits bei ihnen einzuchecken, verzichtete ich auf das Angebot des Bibliothek-Mitarbeiters und pedalierte stattdessen zum Haus meiner Hosts. Dort angekommen, nahm ich nun also wie abgemacht den Schlüssel zur Hand, ich betrat das Haus – und kam mir dabei vor wie ein Ganove in einem Hollywood-Film. Vorsichtig tat ich der Reihe nach all das, was meine Hosts in ihrer Nachricht empfohlen hatten.
Und währenddessen wurde mir eines bewusst: Ich hatte heute im Wesentlichen zwei bemerkenswerte Gesten erlebt, wobei das Interessante an ihnen das Folgende ist: Während die faire Geste meiner Hosts (mir Zutritt zu ihrem Haus zu gewähren) seinen Ursprung in VERtrauen sieht, so besteht der Ursprung der Geste des Bibliothek-Mitarbeiters (mir anzubieten, das Rad zum Schutz vor Langfingern ins Haus zu bringen) in grundsätzlichem MISStrauen…

Die Memo des Tages: Willst du die Nerven deines Gastes strapazieren, so platziere direkt vor dem Wasserkocher ein Kugelglas mit einem Goldfisch (wie man es aus Cartoons kennt), und fordere den Gast dann auf, sich doch „einfach einen Tee zu kochen“. Er wird sich beim Wasserkochen – in der Befürchtung, das Kugelglas auf den Boden und damit den Fisch in den Tod zu reißen – zwangsläufig so fühlen wie beim ‚Heißen Draht‘.

Der Dank des Tages gebührt: Dem Rückenwind; dem Vertrauen und den tollen Geschichten meiner Hosts; dem Misstrauen des Bibliothek-Mitarbeiters.

Der Vierzeiler des Tages:
Kommt man zu einem Meeting zu spät,
so spricht man von ‚Verspätung‘;
doch wie lautet die Bezeichnung;
wenn man dort verfrüht aufschlägt?

Wenn ich heute Geld gehabt hätte, hätte ich mir folgendes gekauft: Einen Wetterhahn. Denn diesen hätte ich zum Etappenstart vorn auf meinen Lenker gespannt (oder auf meinem Helm platziert), um mich permanent darauf abzufeiern, dass ich permanent Rückenwind habe.

Tourdaten:
Start: Vernois-Sur-Mance
Ziel: Dijon
Kilometer: 105

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