Schockierender Schneefall (Tag 11)

„Wie? Schnee??“ Ich traute meinen Augen kaum, als ich am Morgen aus dem Fenster blickte: Über Nacht hatte sich Frankreich tatsächlich in eine weiße Winterlandschaft verwandelt. Statt Fahrrad sehnte ich mir ein Snowboard herbei; statt Radbekleidung einen Skianzug; und anstelle von Plastikflaschen eine Thermoskanne.

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Es waren wahrlich nicht die besten Bedingungen, um auf einer Radreise unterwegs zu sein; noch dazu, weil sie von Improvisation und Zeltnächten dominiert ist. Das wirklich Schlimme an der Situation war jedoch keineswegs der frühe Etappenstart um kurz vor acht Uhr morgens, welcher dem Arbeitsbeginn meiner Gastgeber geschuldet war. Das Schlimme waren nicht die Schneemassen und Nebelfelder. Nicht die Angst, die beim Kurvenfahren und Umrunden von Verkehrskreiseln bei Eiseskälte permanent mitfährt. Und auch nicht der latente Wind. Das Allerschlimmste war, dass ich das Pedalieren durch die weiße Winterwunderwelt irgendwo, tief im Inneren, sichtlich zu genießen schien.

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Vor allem, als sich gegen Mittag die Sonne dazu gesellte, und die Schneefelder zum Funkeln brachte, wirkte die Landschaft so wunderschön unberührt und friedvoll, dass sie für viele der Unannehmlichkeiten, die mit solch einem kalten Tag unweigerlich einhergehen, entschädigte. Zumal ich soeben dank eines ungemein lieben Ehepaares Energie und Wärme getankt hatte:
Ich hatte unter dem Baugerüst ihres Hauses gestanden, als der Mann mich ansprach, ob ich nicht auf Tee und Mittagessen ins Warme kommen wolle – wobei wir uns in einer Mischung aus Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch, und Zeichensprache verständigten. Wenngleich meiner ursprünglichen Planung zuwider, willigte ich ein, genoss warmen Tee und warmes Mahl, während seine Frau für mich die Route in mein Tagesziel ausarbeitete.

Als bemerkenswert bleibt mir nicht nur Herzlichkeit und Vertrauen dieses Paares in Erinnerung, sondern auch etwas Weiteres: die Tatsache, dass sie erstaunlicherweise Bekannte jener Gastgeber waren, bei denen ich – im 45 Kilometer entfernten Örtchen Frizon – die Nacht verbracht hatte.
Was sich einerseits wie ein purer Zufall lesen mag, lässt sich andererseits vielleicht auch insofern interpretieren, als dass sich ungemein liebe und gastfreundliche Menschen eben offenbar untereinander zu kennen scheinen…

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In der Folge wurde es stürmischer, kälter, schneematschiger und hügeliger. Immer wieder musste ich an Steilrampen all meine Kraft lassen, und an den jeweils kurz darauf folgenden Abfahrten all meine Konzentration. Die Beherrschung des Reiserads bei Schneegestöber hat – wie ich erstmals feststellte – tatsächlich so seine Tücken. Nachfolgend habe ich zehn Punkte zusammengetragen, an welchen deutlich wird, woran deutlich wird, dass man im Winter mit einem (Reise-)Rad unterwegs ist:

Du merkst, dass du im Winter auf einem Reiserad unterwegs bist, wenn…

…Autofahrer dich zur Anfeuerung anhupen und nicht zur Pöbelei!

…das Wasser in deinen Trinkflaschen gefriert!

…die Straßen zwar Schnee- und Nebelfrei sind, du auf den Feldern zur linken und rechten Seite aber nicht weiter als ein paar Meter schauen kannst!

…sich beim Essen eines Müsliriegels die Frage stellt: Wer überlebt den Kampf – der Riegel oder deine Zähne?

…die Pausenzeiten länger zu werden drohen als die Fahrtzeiten!

…du dich auf deinem Reiserad erstmals ganz aerodynamisch klein machst. Nein: nicht für die Geschwindigkeit – sondern vielmehr gegen die Kälte!

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…du am Ende des Tages mit Erschrecken feststellst, im Verlauf der Etappe lediglich eine drittel Flasche Wasser getrunken zu haben!

…du deine Zehen und Finger aus Furcht davor, sie verlieren zu können, permanent in Bewegung hältst!

…dir bewusst wird, dass du bergauf lieber fährst als bergab, weil dir dort zumindest warm bleibt!

…du dementsprechend auch die Pausen anders herum planst: Während im Sommer die Pausen oben anstehen („Da, auf der Kuppe, da habe ich sie mir verdient!“), ist es in der Kälte umgekehrt („Da, im Tal, nach der kalten Abfahrt, da habe ich sie mir verdient!“).

In diesem Zusammenhang frage ich mich ferner, warum ältere Menschen bei diesen Temperaturen nicht frieren. Denn: Kennt ihr das? Ihr seid bei Minusgraden in der wärmsten Montur unterwegs, die ihr besitzt, friert nichtsdestotrotz tierisch; und dann seht ihr Senior oder Seniorin vom Bäcker zum Supermarkt radeln – ohne Mütze, ohne Handschuhe, und ohne den Hauch eines Anzeichens von Kälte. Diese Situation ist aus meiner Sicht eines der wahren Rätsel der Menschheit!

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Während ich Kilometer um Kilometer auf meinem Weg nach Vernois-Sur-Mance einfuhr, Hügel um Hügel bezwang, hoffte ich eines inständig: Dass die Autofahrer, welche mich überholten, mich nicht für eine Fata Morgana hielten.
„Ein Radfahrer bei diesen Bedingungen? Nein, das kann nicht sein!“, das könnten sie sich meiner Befürchtung zufolge gedacht haben. Entsprechend froh war ich darüber, dass mich keiner von ihnen – während er glaubte, zu halluzinieren – gnadenlos übergebrezelt hat.

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Dass ich mich am Ende des Tages, nach 110 schneeweißen Kilometern, noch ganz gut fühlte, hatte, neben meiner Faszination für die weiße Pracht, noch eine weitere Ursache: Es empfing mich am Ende eines interessanten Tages ein grandioser Couchsurf-Host – wobei ich ohnehin plane, aufgrund der subotimalen Wetterbedingungen in den kommenden Tagen von Sofa zu Sofa zu surfen. Schließlich ist mein Equipment (und allem voran mein Schlafsack mit seiner Komfortzone von +5 Grad) meinem Gefühl zufolge nicht perfekt für diese Temperaturen geeignet. Stolz war ich am Abend auf mein Reiserad, dem trotz widriger Bedingungen kein Zeichen von Schwäche anzumerken war. Mal abgesehen davon, dass ich doch tatsächlich die Bremsbeläge erneut wechseln musste: Bei Schneematsch, Kälte und 35 Kilogramm Gepäck hatten die steilen Abfahrten und das harsche Herunterbremsen offensichtlich Spuren hinterlassen. Ähnlich erstaunt wie über diese Tatsache war ich ob des morgigen Wetterberichts: Regen, Schnee und Blitzeis sind angekündigt.
Mein Glück, dass Rad- und Ausdauersportler typischerweise das Privileg genießen, sich nach jeweils drei Fahrtagen einen Ruhetag gönnen zu dürfen…

Die Memo des Tages: Bremse ökonomisch: Du hast schon vier Sätze an Bremsbelägen verbraten. Und schlussendlich nicht weiterfahren zu können, und damit dein Ziel nicht zu erreichen, weil du keine Bremsen mehr hast (oder, alternativ, ohne Bremsen fahren zu müssen…), das wäre nun wahrlich ein arg ironisches Ende deiner Radreise.

Der Dank des Tages gebührt: Dem lieben Ehepaar, das mich aufnahm; einem Kamin; dem Barbetreiber für Wärme und heißes Wasser (und der Trierer Jugendherberge für den Teebeutel, den ich hineintat); den hupenden Autofahrern und den (nur rar sich zeigenden) Fußgängern für Gesten der Motivation; und dem Wettergott dafür, dass es zumindest kein Eis gab.

Der Vierzeiler des Tages:
Ob du im Stehen fährst oder im Sitzen;
dir ist kalt, der Wind pfeift ins Gesicht;
doch unter der untersten Kleidungsschicht;
fängst du trotzdem an zu schwitzen.

Wenn ich heute Geld gehabt hätte, hätte ich mir folgendes gekauft: Alles, was den Tag irgendwie (noch) erträglicher gemacht hätte – ich fange mal mit dem Buchstaben ‚S‘ an – nur um zu zeigen, wie endlos diese Liste ist: Schneeketten, Spikes, Steigeisen, Sauna, Suppe, Streusalz, Schwimmbad, Schuhsohlenwärmer Schneeschieber, Sonnenbrille, Schneeschuhe, Skilift und Skipiste, Snowboard, Skianzug.

Tourdaten:
Start: Frizon
Ziel: Vernois-Sur-Mance
Kilometer: 110

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