Rigoroser Racheakt! (Tag 6)

Rache ist süß. Und das behaupte ich, obwohl ich alles andere als ein rachsüchtiger Mensch bin. Doch die heutige Situation hat förmlich nach einem Rachefeldzug verlangt. Schließlich hatte die Dame in der Jugendherberge meine Nachfrage nach einem Mittagessen noch überheblicher beantwortet, als Francecso Totti bei der EM 2000 gegen Holland seinen Elfmeter verwandelte.

Oder als Christiano Ronaldo gegen E-Jugendspieler vermutlich seine Freistöße schießen würde.
„Ne – such dir doch selber was“, blaffte sie mich an – und löste damit bei mir ein Gefühl der kopfschüttelnden Verständnislosigkeit aus. Nein – nicht wegen mir, und der Tatsache, dass ich auf ein warmes Mittagessen verzichten musste. Sondern vielmehr, weil ich mir vorstellte, wie sie auch andere Menschen, die kein Geld hatten, in selber Manier behandeln würde: Von oben herab, und ohne einen Hehl daraus zu machen, dass sie sich fühlte wie etwas Besseres. „Ich bin ein besserer Mensch“, schien ihr Tonfall geradezu sagen zu wollen.
Doch wie der Volksmund weiß, sticht das Bienchen hinten – und so sollte am Ende des Tages ich es sein, der zuletzt – und damit am besten – lachte. Schlussendlich konnte ich mich nämlich glücklich schätzen, in den Genuss eines rigorosen Racheaktes zu kommen.

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Zunächst aber galt es, von der Jugendherberge in Cochem aus (ähnliche – indes imaginäre – Ortsnamen sind im Übrigen: Butzem, ßpielem, Coordinierem, Vaschem, Petreuem…) weiterzustrampeln. Über rund 40 flache Kilometer entlang der Mosel erreichte ich schließlich Zell. Von dort aus ging es in der Dämmerung auf Schleichwegen durch Weinplantagen, die durch knallrote Blätter zu bestechen wussten – Idylle pur und eine Fahrt, die ich nicht vergessen werde.
Wobei mir auf diesen abschließenden 20 Kilometern, von Zell bis in meinen Zielort mit dem amüsanten Namen Traben-Trarbach, zweierlei bewusst wurde:
Erstens, wie einfach doch das Pedalieren sein kann, wenn man einfach dem Flussverlauf folgt statt in Superhelden-Manier immer wieder Abkürzungen zu suchen, welche sich tatsächlich als exaktes Gegenteil entpuppen.

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Andererseits, welch schweren Stand Obdachlose und Menschen ohne Geld haben. Ich sinnierte einfach mal darüber, wie es wohl wäre, wenn mein Trip nicht zwei oder drei Wochen andauern würde, sondern ich mich jahrelang in dieser Lage befände.
Natürlich lerne ich während dieser Fahrt auch Positives: das Kleine zu schätzen etwa – so wie beispielsweise zwei Pfandflaschen, die ich finde. Oder die zwei Euro, die gestern ein Student offenbar in seinem Schließfach hat liegen lassen (und die ich mir prompt schnappte, weil für gewöhnlich ich derjenige bin, der an solcher Stelle sein Geld lässt.)
Außerdem weiß ich mittlerweile um den Wert von Dingen: Nicht nur, weil ich gemerkt habe, wieviel drei Euro sein können und was für Tore sie einem öffnen, wenn man behutsam mit ihnen umgeht. Sondern auch, wenn mir hier beispielsweise etwas zu Essen herunterfällt: Ich würde – im Gegensatz zum Alltag – in meiner jetzigen Situation nicht einmal darüber nachdenken, darüber nachzudenken, das Heruntergefallene wegzuschmeißen.
Was ich ferner feststelle, ist die diebische Freude, welche herrscht, wenn man sich einen kleinen Vorrat – sei es an Essen oder Geld – hat anlegen können.

Degegenüber wiegt jedoch etwas anderes enorm schwer: Die Tatsache, dass man permanent nicht weiß, was morgen sein wird, dass man kein festes zu Hause hat, keinen sicheren Schlafplatz – und stets von anderen Menschen abhängig ist.
Das womöglich Schlimste aber ist – darauf aufbauend – etwas, das mir gar nicht so bewusst war: der psychologische Bereich! Denn langfristige, sinngebende Ziele und weitreichende Pläne lassen sich nur schwer fassen, und unweigerlich stellt sich die Frage nach Zielen, Ambitionen, nach Gerechtigkeit – und schlussendlich unweigerlich auch jene nach dem Lebenssinn. Und das schreibe ich sogar in dem Wissen darum, dass ich mich – einerseits – nur vorübergehend in dieser Situation befinde. Und ich zudem, andererseits, mit Lyon ein ziemlich konkretes (Lebens?)Ziel vor Augen habe.
Dem ganzen die Krone aufsetzen tun natürlich Mitmenschen, die sich respektlos verhalten. So wie die Dame etwa, in der Cochemer Jugendherberge. Mit ihr hatte ich ja noch eine Rechnung offen – und ich beglich sie freudvoll in der Jugendherberge in Traben-Trarbach: Nicht nur, weil ich am späten Abend im Garten derselbigen unter einem Pavillon den perfekten Zeltplatz vorfand. Sondern vor allem aufgrund jener List, die ich ausheckte, als ich um 17:30 in Trarbach eintraf:

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Rasch zog ich die beste Kleidung an, die ich bei mir habe (und trug folglich die beste Kleidung, die ich bei mir trage…), machte meine Haare zurecht, um pünktlich um sechs Uhr – fast schon auffällig unauffällig – das Hostel zu betreten. Und plötzlich, da war ich nicht mehr der verschwitzte und verranzte Bettler-Radfahrer vom Mittag. Sondern ich war ein Gast der Herberge in Traben-Trarbach. Ein willkommener Gast. Ein Gast wie jeder andere auch.
Ich kam mit Leuten ins Gespräch – und so avancierte der Abend zu einem der besten und wärmsten dieses Trips. Und, ja: Auch das Essen schmeckt in der Jugendherberge in Trarbach hervorragend. Und vermutlich (das entspringt schlichtweg der Logik des allerersten Satzes) schmeckte es wohl sogar noch ein ganz klein wenig süßer als sonst…

Die Memo des Tages: Wer zuletzt lacht…

Der Dank des Tages gebührt: Der unfreundlichen Dame für die Rache-Idee; der Dame im Aldi für das Zahlen meiner Müsliriegel; dem Tag für den neuen Blickwinkel auf Geldlose; der Jugendherberge in Trarbach für Schlafplatz und alles weitere.

Der Vierzeiler des Tages:
Soeben hab ich realisiert:
‚Rache ist süß‘ versteh ich voll;
doch was ‚Rache ist Blutwurst‘ soll;
das hab ich noch nie kapiert!

Wenn ich heute Geld gehabt hätte, hätte ich mir folgendes gekauft:
Batterien für das Vorderlicht. Die letzten 10 Minuten mit der Taschenlampen-App des Handys als Frontleichte zurückzulegen, das war eher uncool.

Tourdaten:
Start: Winningen
Ziel: Traben-Trarbach
Kilometer: 104

2 Kommentare zu “Rigoroser Racheakt! (Tag 6)

  1. Dass Du aber womöglich das Entgegenkommen in der Jugendherberge Trarbach unter anderem nur genießen konntest, weil Du optisch zu überzeugen wusstest – nehme ich jetzt einmal an -, stimmt mich doch etwas nachdenklich (auch wenn ich die Güte der Trarbach-Jugendherberge-Mitarbeiter NICHT untergehen lassen möchte!!!). Was mit solchen Seelen, die keine „beste-Kleidung“ im Repertoire haben? Denn – und das nehme ich auch einfach mal an – mit drei Euro hättest Du eine solche Schick-Ausstattung nicht kaufen können. Oder?

    • Da sagst du was!
      Danke erstmal, dass DU das „optische Überzeugen“ in den Raum geworfen und MIR damit eine selbstverliebt klingende Äußerung erspart hast 🙂 Spontan fällt mir dazu „Kleider machen Leute“ ein. Und zudem hat sich bei mir ja – rückblickend betrachtet – tatsächlich das Kuriosum ergeben, dass ich, als ich ehrlich war, nicht das bekam, was ich wollte. Demgegenüber erhielt ich, als ich mich ’selbst einlud‘, einfach alles, wonach ich (um mal ein dem Ortsnamen angemessenes Wort zu verwenden…) ‚trachtete‘ 😉

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